Johannes Oberthür

NICHTS als Provokation?
Zur Diskussion über die Bedeutung von Frei-Raum

Vortrag, gehalten im Württembergischen Kunstverein, Stuttgart, 2001

Die Diskussion, die wir an dieser Stelle führen wollen, steht im Zeichen der Frage: „Nichts als Provokation?“ - Dieser Titel ist natürlich selbst bereits eine Provokation. Denn er scheint das, was in ihm zur Sprache kommen soll, eher zu verschleiern als klarzustellen; überdies enthält er zwei Bedeutungsebenen, die in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander, aber auch zu unseren alltäglichen Vorstellungsweisen stehen: So kommt hier einerseits die Erwägung zum Ausdruck, ob es überhaupt um gar nichts anderes als um Provokation geht? Entsprechend könnte die Frage in ihrer positiven Umkehrung lauten: Geht es einzig und allein nur um Provokation? Aber was für eine derart umfassende Provokation könnte hier gemeint sein? - Andererseits wird aber ein viel fundamentalerer Verdacht in den Raum gestellt, ein Verdacht, der besonders dadurch geschürt wird, daß das Wort ,NICHTS‘ im Titel durchgehend in Form von Majuskeln geschrieben erscheint. Das hier gemeinte Nichts übernimmt die Funktion eines Subjekts: es selbst, das NICHTS, erweist sich in einer ausgezeichneten Weise als das, was provoziert.
Was in Frage steht und als derartige Fragwürdigkeit die nachfolgende Diskussion anleiten soll, wäre demnach dies: Geht es in einer entscheidenden Weise um so etwas wie Provokation, um eine Provokation nämlich, die durch jenes wie auch immer zu denkende ,Nichts‘ bewirkt wird? Darin genau liegt ja das Provozierende des Titels selbst: daß irgend so ein unfaßliches ,Nichts‘ eine Provokation darstellen und daß dieser Provokation auch noch fundamentale Bedeutung zukommen soll. Unklar, schleierhaft und deshalb provokant bleibt der Titel selbst, weil sich vorderhand nicht ermitteln läßt, was hier eigentlich ,Nichts‘ und - im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem negativsten der negativen Begriffe - das Wort ,Provokation‘ bedeuten soll.
Aber die hier angerissene Thematik der Begriffe ,Nichts‘ und ,Provokation‘, eines ,Nichts‘ nämlich, das selbst als Provokant fungiert, ist keineswegs der einzige Aspekt, der im folgenden zur Diskussion steht. Im Zuge der anberaumten Diskussion soll „die Bedeutung von Freiraum“ erörtert werden. ,Freiraum‘ - damit ist nun der dritte Begriff genannt, der im Zentrum unserer gemeinsamen Auseinandersetzung steht. Dabei scheint sich wie von selbst eine Identifikation zwischen dem Begriff ,Nichts‘ und dem des ,Freiraums‘ zu ergeben. Sind wir doch gewohnt, da, wo ein Raum frei bleibt, d.h. da, wo Raum anscheinend durch nichts besetzt wurde, eben von ,nichts‘ zu sprechen. Ein entscheidender Unterschied darf in diesem Zusammenhang jedoch nicht übersehen werden. Das Wörtchen ,nichts‘, das in jenem alltäglichen Sinne ständig und bei verschiedensten Gelegenheiten Verwendung findet, wird klein geschrieben; während das in unserem Gesprächsforum zur Diskussion stehende ,Nichts‘ groß und sogar als Ganzes, wie gesagt, in Majuskeln gesetzt erscheint.
Ich möchte im folgenden die genannten Begriffe - das großgeschriebene Nichts, die Provokation und den Freiraum - etwas genauer in Augenschein nehmen.
Ich beginne mit dem Begriff des ,Nichts‘. Die im Titel selbst angelegte Provokation beruht ja hauptsächlich in diesem Begriff. Zunächst provoziert dieser allerdings nichts anderes als die Frage, was er eigentlich bedeuten soll? Ein als Subjekt fungierendes ,Nichts‘ läßt sich ja nirgendwo in der uns zugänglichen Lebenswelt ausmachen. ,Das Nichts provoziert‘, so gibt der Titel zu verstehen, und das klingt beinahe wie ,Das Nichts nichtet‘, jene berühmt-berüchtigte Sentenz Heideggers, die seinerzeit so viel polemische Kritik und feindselige Spötterei auf den Plan rief. Nun, Philosophen wie Ernst Tugendhat wiesen Heidegger nach, daß jenes groß geschriebene Nichts gar nicht zu halten, zumindest aber aus dem klein geschriebenen nicht einfachhin abzuleiten ist. Dieser schwerwiegende Einwand ist gar nicht ernst genug zu nehmen; und er betrifft natürlich, weil in unserem Kreis ebenfalls von einem groß geschriebenen ,Nichts‘ die Rede ist, auch die hier zu führende Diskussion.
Wir müssen uns also davor hüten, jenes ,nichts‘, von dem wir sprechen, wenn wir z. B. sagen: „auf diesem Platz da befindet sich nichts“, mit dem ,Nichts‘ in jener subjektivierten Form ineins zu setzen. Was aber verbirgt sich dann hinter diesem zuletzt genannten ,Nichts‘? Verbirgt sich überhaupt hinter ihm etwas? Oder verbirgt es sich vielleicht vielmehr selbst? Läßt es sich überhaupt an irgendeiner Stelle fassen? Wo und wie manifestiert es sich?
Die Frage, ob sich das Subjekt eines provozierenden ,Nichts‘ irgendwo, irgendwie wahrnehmen läßt, muß zunächst mit einem klaren Nein beantwortet werden. Denn wir können gar nicht anders, als zu bemerken, daß überall etwas ist. Selbst wenn wir den Raum, den Raum dieses Saales z. B., als einen leeren betrachten oder vorstellen, so ist da ja immer noch der Raum, der niemals ein Nichts, sondern noch stets ein Etwas ausmacht. Versuchen wir, das in Frage stehende Nichts zu denken, so stoßen wir noch entschiedener auf den Befund: Nichts läßt sich nicht denken. Sobald wir denken, denken wir etwas. Wir können aber - und das ist ein entscheidender Befund - auch gar nicht nicht denken. Immer sind wir irgendwie denkend. Und als Denkende denken wir immer etwas. Ein Nicht-Denken oder gar ein Nichts-Denken ist für uns niemals realisierbar. Ich gebrauche den Begriff des Denkens hier in einer sehr weiten Bedeutung, für die der Begriff des Verstehens vielleicht angemessener ist. Wo wir sind, wahrnehmen, fühlen, etwas tun - immer und überall sind wir Verstehende. Denken, Verstehen, Verstand, das sind Worte, die auf Grundbegriffe antiker Philosophie, auf die Begriffe logos und ratio zurückgehen. Für die urmenschliche Erfahrung, daß der Mensch immer auch irgendwie verstehend ist, ist die Entwicklung der abendländischen Logik und des abendländischen Rationalismus seit Platon ein ebenso beredtes wie weltumspannendes Zeugnis.
Verstehend befinden wir uns - sei es emotional oder intellektuell wahrnehmend - immer im Bereich des Etwas. Wir sind gleichsam gefangen in diesem Bereich. Als Gefangene sind wir unfrei. Wir sind gefesselt an das Etwas. Das Nichts in jenem fundamentalen Sinne einer von allem Etwas befreiten Dimension gibt es für uns gar nicht. Wir sind eingemauert in Etwas. Daß wir aus dem Bereich des Etwas nicht hinauskönnen in einen Freiraum, der mit Nichts gleichzusetzen wäre, ist eine zutiefst bedrückende, eine buchstäblich er-drückende Erfahrung, die mit dem Grundcharakter unseres Seins, nämlich unwiderruflich Verstehende, ans Denken gebundene zu sein, unmittelbar zusammengehört. Denn wir sind nicht anders als verstehend. Und als Verstehende sind wir immer und überall mit Etwas verkettet. In dieser fundamentalen, in dieser düsteren und in der Tat katastrophalen menschlichen Urerfahrung ist der wesentliche Grundstein für den vom Abendland über die Welt sich ausbreitenden Rationalismus und seine Verbündete, die Logik, zu sehen. Diese menschliche Urerfahrung, wie gesagt, ist eine Erfahrung der Gefangenschaft, der Gefangenschaft im Verstehen und dergestalt im Etwas. Als Erfahrung der Gefangenschaft ist sie eine Erfahrung der Ohnmacht. Als Ohnmächtige erweisen wir uns, weil wir - über unser Verstehen und über den Bereich des Etwas hinaus - ohne Macht sind. Wir haben nicht die Möglichkeit, aus den Strukturen des uns angestammten Verstehens und des mit ihm verkoppelten Etwas herauszutreten. Aber diese grundlegende Ohnmachtserfahrung wurde von den Gründern des abendländischen Rationalismus in eine vermeintliche Allmachtserfahrung umgemünzt. Wenn sich nicht aus dem Bezirk des Verstehens und des Etwas hinausgelangen ließ, dann mußte dieser Bezirk eben als einziger, einzig relevanter und fundamentaler Wirklichkeitsbereich ausgewiesen werden. Wenn es über das Verstehen und über das Etwas hinaus nichts gab, dann mußte eben dieses Verstehen, die Logik, die Ratio des Rationalismus, und das mit ihm verkoppelte Etwas zum ausschließlichen, d. h. zum absoluten Wirklichkeitsbezirk erklärt werden. In die von ihm selbst vorgegebenen Strukturen schloß sich dieserart das menschliche Denken und Wahrnehmen ein. Über diese Strukturen hinaus ließ sich nichts verstehen und wahrnehmen, mithin erwies sich jede Frage nach einem solchen ,Darüber-hinaus‘ als obsolet.
Wo aber blieb das Nichts? Bestätigte sich im Zuge der rationalistischen Selbstermächtigung des Menschen und seines Denkens nicht der Befund, daß es so etwas wie ,das Nichts‘ gar nicht gibt? - Das menschliche Denken kann nicht verstehen, was nicht immer auch es selbst ist. Bei allem, was für den Menschen ist - und dem Menschen ist nichts anderes zugänglich, als was für den Menschen ist -, bei allem also, was für den Menschen ist, ist das Verstehen unwiderruflich in grundlegender Weise dabei. Im Bereich des menschlichen Wissens und Wahrnehmens ist nur, was der Mensch auch - und sei es nur der zukünftigen Möglichkeit nach - zu verstehen imstande ist. Alles dieses, was ist, indem der Mensch es immer zugleich zu denken vermag, gehört in den Bereich des Etwas. Darüber hinaus vermag der Mensch nichts zu verstehen; deshalb kann für ihn - über den Bereich des zu verstehenden Etwas hinaus - auch nichts sein. Dies jedoch - und das ist entscheidend - vermag der Mensch auch zu verstehen. Er bleibt bei allem, was er versteht, stets innerhalb der Strukturen des ihm angestammten Verstehens. Wir können demnach dieses genuin menschliche Verstehen internes Verstehen nennen. Im Bereich dieses internen Verstehens begegnet dem Menschen alles, was für ihn ist. Damit aber ist der Mensch in der Lage, auch dies zu verstehen, daß er - über dieses sein internes Verstehen hinaus - nicht versteht. Dieses Nicht-Verstehen dessen, was über sein internes Verstehen hinaus eben nicht zu verstehen ist, können wir externes Nicht-Verstehen nennen. Zum internen Verstehen des Menschen gehört dieses externe Nicht-verstehen unwiderruflich. Dieses externe Nicht-Verstehen betrifft nichts, was der Mensch irgendwann einmal auch verstehen könnte. Es bleibt vielmehr aus den genuinen Strukturen seines Denkens und Verstehens ausgeschlossen. Als solches bildet es so etwas wie einen Raum von externem Nicht-Verstehen, innerhalb dessen das interne Verstehen allein sich vollzieht. Ich nenne diesen Raum Externität und thematisiere ihn als einen, der - so paradox das klingen mag - im menschlichen Denken und Verstehen verwurzelt ist. Daß der Mensch denkt und versteht, impliziert nämlich unmittelbar, daß er über die Strukturen seines Denken und Verstehens nicht verstehen kann. Dieses nur als Nicht-Verstehen zu erörternde Phänomen läßt sich demgemäß auch nicht wirklich sprachlich fassen. Als solches betrifft es das, was wir nunmehr als groß geschriebenes Nichts bezeichnen können. Dieses Nichts ist der Inbegriff dessen, was - über die angestammten Strukturen des menschlichen Verstehens hinaus - nicht zu verstehen und dergestalt auch nicht zu benennen ist. Das Nichts ist nichts anderes als das unwiderufliche externe Nicht-Verstehen- und Nicht-benennen-können, die Externität.
Die Externität, das Nicht-Verstehen des Menschen macht den Raum aus, innerhalb dessen der Mensch allein versteht. Gäbe es diesen Raum des Nicht-Verstehens, der Externität nicht, so gäbe es auch das interne Verstehen von Etwas nicht. Dies bedeutet umgekehrt, daß die Verdrängung der Externität, des Nicht-Verstehens, dem menschlichen Verstehen die Möglichkeit benimmt, sich auf das Interne hin immer neu zu entfalten. Diese Verdrängung der Externität vollzieht sich im Zuge der Entfaltung der abendländischen Rationalität, im Zuge der Versteifung auf das logische Denken, das Verstehen als den einzigen und absoluten Grund der Wirklichkeit alles dessen, was es gibt.
Alles Interne braucht die Externität, d.h. das Außerhalb des Verstehens und Denkens. Nur müssen wir uns abgewöhnen, dieses Außerhalb wie ein Etwas, ein Innerhalb der Strukturen des Verstehens eben doch Einholbares vorstellen zu wollen. Außerhalb des Verstehens, extern, d.h. eben: nicht-verstehbar, nie und nimmer und von keinem jemals zu begreifen, insofern begrifflos. Dieses externe Nicht-Verstehen, die Externität hängt unserem internen Verstehen unwiderruflich an. Sie gehört ihm zu wie die abgekehrte Seite des Mondes dem erleuchteten Rund, das viele von uns immer wieder schlaflos macht. Jene den Irdischen abgewandte Hemisphäre bildet eine ewige Schattenzone, die unserer Wahrnehmung entzogen bleibt. Dies bedeutet umgekehrt: Die Externität, das externe Nicht-Verstehen bleibt auf immer frei von unserem internen Verstehen. Die Externität ist der ursprüngliche Frei-Raum.
Die soeben erläuterte Externität kann dem gesuchten Nichts gleichgestellt werden, aber nur dann, wenn wir auch bezüglich dieses Nichts darauf verzichten, es uns irgendwie nach Art eines Etwas vorstellen zu wollen. Dieses Nichts ist das ganz und gar Nicht-Vorstellbare. Es ist jenes externe Nicht-Verstehen, das allein darin sein Bekunden hat, das es außerhalb der definitiven Grenzen unseres internen Verstehens statthat, aber eben als eines, das von uns nicht zu verstehen ist. Es bleibt frei von unserem Verstehen. Nur so kann es permanent provozieren. Das Nichts im Sinne unseres externen Nicht-Verstehens provoziert uns, d.h. es ruft unser internes Verstehen permanent auf den Plan. Jenes Nichts der Externität bringt uns allererst in Bewegung, indem es den Raum dazu gewährt. In ihm allein kann es zu der Bewegung unseres Verstehens und Wahrnehmens kommen. Dergestalt provoziert das Nichts, d.h. es ruft uns heraus und hervor, nämlich in jenen Raum, den Frei-Raum der Externität. Dieser ist Bedingung der Bewegung alles internen Verstehens und Wahrnehmens. In diesem Sinne ist das Nichts, die Externität, die unsichtbare, aber permanente Vakanz, das Offenbleiben, aus dem und in das hinein allein die Bewegung alles verstehenden, bewußten Lebens sich unaufhörlich vollzieht.
Das Nichts provoziert. Das Nichts ist die ursprüngliche Provokation. Aber es provoziert ursprünglich nichts anderes als bewußtes Leben und verstehende, produktive Lebensbewegung. „Die formfordernde Gewalt des Nichts“, sagt der Naturwissenschaftler und Dichter Gottfried Benn, die „formfordernde Gewalt des Nichts (...) scheint das Gesetz des Produktiven zu sein.“ Auch Benn mag damit meinen: Dieses Nichts allein ist es, das uns verstehend und produzierend ständig in die Vakanz der Externität hervorruft, als die es selber permanent offen steht. Unser Verstehen und Wahrnehmen bliebe unbeweglich, festgesetzt, eingemauert im Verstehbaren, im Internen dessen, was es in den eigenen Strukturen immer bereits eingeholt hat. Aber nur so ist Bewegung bewußten, verstehenden, produktiven Lebens möglich, daß es ständig in den offenen, vakanten Raum pro-voziert, hervorgerufen wird. Vermöge dieses Raumes allein gibt es Bewegung, Veränderung, Entwicklung, produktive Entfaltung menschlichen Wesens. Auf die anfangs formulierte, unserer Diskussion zugrundegelegte Frage „Nichts als Provokation?“ finden sich mithin die zwei Antworten: 1. Das Nichts fungiert als ursprüngliche Provokation. Und 2. Es geht in einem grundlegenden und umgreifenden Sinn allein um diese Provokation, wenn es uns um die produktive Entfaltung und Gestaltung menschlichen Wesens zu tun ist.
Das Nichts, so ergibt sich weiterhin, ist in der Tat der ursprüngliche Frei-Raum, und zwar in einem zweifachen Sinn. Zum einen nämlich manifestiert es sich als eine alles durchdringende und umfassende Dimension, die frei bleibt von all dem, was dem internen Verstehen verfügbar zu sein oder zu werden vermag. Als frei erweist sich der Frei-Raum des Nichts aber auch insofern, als er das menschliche Verstehen und Wahrnehmen überhaupt erst dazu befreit, sich im Raum jener Externität zu entfalten und zu vollziehen. Als Frei-Raum provoziert das Nichts, d.h. es ruft den Menschen in die Freiheit zur Entfaltung und produktiven Entwicklung hervor.
Mit dieser Überlegung verbindet sich allerdings ein weiterer entscheidender Befund: Das Nichts, der ursprüngliche Frei-Raum, die Externität geht nicht auf die Macht und das Vermögen des Menschen zurück. Vielmehr entfaltet sich umgekehrt der Mensch allein vermöge jener provozierenden Gewalt des Nichts. Das Nichts, die Externität bleibt dem Menschen in einer radikalen Weise unverfügbar. Als solches macht es Angst. Der Mensch fühlt sich zutiefst bedroht von solchem, was ihm zutiefst entzogen bleibt und als derart Entzogenes sein eigenes Sein gleichwohl bestimmt. Handgreiflich wird diese Bedrohung im Bewußtsein des Todes. Das Wissen um das großzuschreibende Nichts stürzt den Menschen in die abgründigste Erfahrung seiner Ohnmacht. Als derart angstbesetzte Bedrohung provoziert das Nichts auch die Verdrängung dieser Angst und Bedrohung. Dieserart provoziert das Nichts, der Frei-Raum jedoch die Verdrängung seiner selbst. Diese Verdrängung manifestiert sich zunächst in der Setzung religiöser oder auch philosophischer Sinnstiftungen. Religionen und philosophische Systeme suchen - zur Abwehr von Bedrohung und Angst - intern einholbaren Sinn an die Stelle des ursprünglich unverfügbaren Frei-Raumes, der Externität zu setzen. Ausgeblendet wird die Vakanz der Externität schließlich durch ihre Überblendung, die das menschliche Verstehen und Denken betreibt. Seine tiefste Ohnmachtserfahrung sucht der Mensch in Allmacht umzukehren. Alles soll verfügbar sein. Alles wird besetzt. Die Folge dieses Prozesses erleben wir heute tiefgreifender denn je. Die Welt wird enger von Tag zu Tag, wie es in Kafkas berühmter kleiner Fabel heißt, bis schließlich dem Protagonisten, der Maus, die zwei letzten Alternativen offenstehen, entweder nach vorne in die tödliche Falle zu laufen oder hinterrücks von der verfolgenden Katze gefressen zu werden.
Der ursprüngliche Frei-Raum des provozierenden Nichts ist Lebensraum, ist Raum der Entfaltung verstehenden, produktiven Lebens. Der ursprüngliche Frei-Raum des provozierenden Nichts, die Externität, ist der Raum zum Atmen des internen Verstehens. Seiner benommen, stirbt dieses den Erstickungstod. Wir alle sind verstehend im Begriff, an der globalisierten Agonie des Verstehens des Internen teilzunehmen. Atem- und Zeitnot, Vernetzung und Verdichtung, Enge und Expansion, Beschleunigung, Erhitzung, Informationsüberflutung, Atmosphärenzerstörung, Gen- und Atomzertrümmerung sind die Zeichen der Zeit. Nur vermöge des provozierenden Nichts manifestiert sich der Raum der Externität, ohne den es kein internes menschliches Verstehen gibt. Ohne den offenen, vakanten Frei-Raum des provozierenden Nichts kreist das Verstehen des Internen in immer engeren Kreisen um sich selbst, d.h. um das von ihm Verstehbare, bis es schließlich in sich zusammenfällt. Dieser Zusammenfall des Verstehens und damit des menschlichen Wesens und Lebens überhaupt ist in regsamstem Gange. Er wird dadurch nicht behoben, sondern nur verdrängt und überblendet, daß sich das menschliche Denken und Verstehen selber darin gefällt und feiert, sich auf allen Wissensgebieten in immer filigranere Verästelungen hinein zu entfalten und zu verlieren.
Damit komme ich zum letzten Punkt meiner Überlegungen, zur Bedeutung der Kunst. Ich verstehe diesen Begriff hier nicht im engeren Sinn als ästhetischen Teilbereich menschlicher Kultur oder gar als produzierende bzw. rezipierende Freizeitbeschäftigung, nicht, mit Nietzsche zu reden, als „lustiges Nebenbei“. Dieser Kunstbegriff ist - Beuys mag durchaus Pate stehen - ein erweiterter. Allerdings mußte der Kunstbegriff durch Beuys nicht erst erweitert werden. Diese Weite besaß die Kunst, bevor sie zur ästhetischen Verzierung des Rationalismus verkam, immer. Eng und schließlich eine marginale Randerscheinung wurde die Kunst erst im Zuge der oben beschriebenen Entwicklung der Verdrängung des provozierenden Nichts, des Frei-Raumes der Externität. Ursprünglich, so meine These, ist in der Kunst gerade diejenige menschliche Tätigkeit zu sehen, die eine Fassung für das Unfaßbare, eine Gestalt für das Ungestalte, Unverstehbare des provozierenden Nichts, des ursprünglichen Frei-Raumes erbringt. Gerade die Kunst besetzt und verdrängt nicht; sie vielmehr öffnet und hält offen. Sie stellt sich in den Dienst einer Sache, die nicht auf Macht und Vermögen des Menschen zurückkgeht, sondern umgekehrt dem Menschen allererst Möglichkeiten verleiht, ver-leiht, d.h. seiner Verantwortung, aber nicht in seinen totalen Besitz übergibt. Insofern trägt die Kunst gewissermaßen nach außen, was im Menschen die Wurzel seines Wesens, das Unverfügbare seiner Herkunft, der Entfaltung seines Verstehens, der Entwicklung seiner Produktivität ausmacht. Die Kunst verhilft dem provozierenden Nichts, dem Frei-Raum der Externität, vermöge derer der Mensch allein sich zu entfalten vermag, zur Manifestation. In diesem Sinne hat die vermeintlich ästhetische, d.h. die an sinnliche Wahrnehmung gebundene Sphäre der Kunst sehr viel und in zentraler Weise mit Unsichtbarem, mit den Sinnen und dem Verstehen Entzogenem zu tun. Die Kunst auf eine rein ästhetische Beschäftigung zu reduzieren, ist eine Folge des oben beschriebenen Prozesses der Rationalisierung der Welt und zugleich der Tod der Kunst. Je mehr in diesem Sinne Kunst betrieben und auf Messen und Märkten dieser Kunstbetrieb angeheizt und ausgeschlachtet wird, umso sicherer darf davon ausgegangen werden, daß hier in großen Massen und durchaus in großem Stil Leichenfledderer am Werk sind. Ich glaube, wir sollten der Tatsache ins Auge sehen, daß wir alle heute dem Tod der Kunst eher beiwohnen, als daß wir auch nur ihrer ursprünglichen Bedeutung noch gewahr zu werden vermögen. Diese Bedeutung - und damit komme ich auf meine These zurück - bezieht sich auf die Gestaltung der menschlichen Lebenswelt insgesamt. Die Gestaltung unserer Innen- und Außenräume, unserer Gebäude, Städte und Landschaften ist ursprünglich ein künstlerisches Geschehen. Allerdings so, daß hier nicht Kunstprodukte hergestellt und den Sinnen zur Schau gestellt werden. Vielmehr würde Kunst all jene menschlichen Gestaltungen tragen und bestimmen, in einer Weise nämlich, daß in diesen Gestaltungen der ursprüngliche Frei-Raum, das provozierende Nichts erhalten bliebe. Daran läßt sich sehen, daß die Bedeutung des Freiraumes und das Bestehen oder Installieren von Freiräumen primär keine Angelegenheit von Stadtplanern, Landschafts-, Innen- und Außenraum-Architekten ist. Die Bedeutung des Frei-Raumes könnte ins Spiel kommen durch Künstler, die diesen Namen in einem erweiterten Sinn verdienen. Sie produzieren nicht Kunst, sondern arbeiten daran, dem provozierenden Nichts, dem Frei-Raum der Externität, der allem menschlichen Planen und Produzieren zugrundeliegt, in diesem Planen und Produzieren zur ständigen Manifestation zu verhelfen. In diesem erweiterten Sinne könnte künstlerische Arbeit das Schreiben von Texten, das Halten von Vorträgen, das Führen von Diskussionen ebenso umfassen, wie die Planung des Architekten oder die Interventionen und Anregungen des bildenden Künstlers.


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